Das, was auf dem Gas- und Strommarkt passiert, ist außergewöhnlich und historisch.

Steigende Kohle- und CO2-Preise und eine hohe Nachfrage nach Gas ließen die Marktpreise explodieren. Vertriebsleiter Thomas Gaide spricht über eine nie dagewesene Situation.

Nach dem Abklingen der Covid-19-Pandemie stieg der weltweite Energiebedarf insbesondere in China und den USA stark an. Diese hohe Nachfrage hatte direkte Auswirkungen auf den Kohlepreis, der im Jahr 2021 stark zulegte. Der Stromterminmarkt folgte rasant dieser Aufwärtsbewegung. Die hohe Nachfrage nach Erdgas ließen Mitte des Jahres auch die Erdgasterminmarktpreise in die Höhe schnellen. Im September wurde die Pipeline Nordstream 2 fertig gestellt, jedoch nicht in Betrieb genommen. Der Markt befürchtete, dass es im Winter zu Engpässen kommen könnte.

Diese Situation in Verbindung mit der hohen Nachfrage und relativ geringe Gasspeicherstände ließen die Terminmarktpreise auf ein bisher nicht gekanntes Niveau steigen. Der drastische Energiepreisanstieg hatte auch zur Folge, dass vor allem Energiediscounter Verträge mit ihren Kunden kündigten oder sogar die Insolvenz drohte. Die Energieversorgung der im Netzgebiet der GSW betroffenen Kunden wird durch die GSW sichergestellt. Das stellt die Energieeinkäufer bei den GSW vor weitere Herausforderungen. Über eine nie zuvor dagewesene Situation auf dem Handelsmarkt für Strom und Gas, den richtigen Zeitpunkt zum Einkauf und schlaflose Nächte spricht Thomas Gaide, Leiter Vertrieb und Beschaffung, im Interview.

Haben Branchenkenner diese Situation prognostiziert und hätte man sich darauf vorbereiten können?
Thomas Gaide: Nein, an einigen Stellen war es vielleicht absehbar, aber dass die Marktpreise in der zweiten Jahreshälfte um bis 700 Prozent steigen, hätte wohl keiner gedacht. Dass diese Situation einige Energiediscounter - die Energie kurzfristig am Spotmarkt kaufen - in Schwierigkeiten bringen wird, zeichnete sich im Herbst ab.

Was haben die zusätzlichen Kunden für die eigene Einkaufspolitik bedeutet?
Thomas Gaide: Zum Ende des Jahres finalisieren wir den Einkauf für unseren geplanten Absatz. Diesen Absatz planen wir immer mit etwas Puffer ein, weil durch neue Hausanschlüsse jährlich auch neue Kunden hinzukommen. Da einige Energiediscounter die Belieferung an ihre Kunden einstellen mussten, waren wir mit zusätzlichen ungeplanten Mengenzuwächsen konfrontiert. Als erstes traf es im Dezember 2021den Erdgasanbieter Gas.de. Kurz darauf folgte der Stromanbieter Stromio. Beide Anbieter haben die Versorgung ihrer Kunden eingestellt. Ab diesem Zeitpunkt müssen wir als örtlicher Grundversorger diese Kunden in unserem Netzgebiet mit Energie beliefern. Die für dafür benötigte Energie müssen wir an den Energiemärkten zu teuren Preisen einkaufen. Diese Situation führte zu zusätzlichen Herausforderungen. Letztendlich haben wir für diese „Neukunden“ auch eigene Tarife eingeführt. Das war die einzige Lösung, um für unsere treuen „Bestandskunden“ weiterhin faire Preise anzubieten. Die Preise für die Neukunden wurden so kalkuliert, dass die aktuellen Marktpreise dieser Situation Rechenschaft getragen haben.

Welche Einkaufspolitik verfolgen die GSW?
Thomas Gaide: Zur Minimierung des Preisrisikos kaufen wir unsere geplanten Absatzmengen langfristig in vielen Tranchen bis zu drei Jahre vor dem Lieferjahr ein. Zum Ende der Einkaufsperiode steht dann die prognostizierte Menge und der Preis für das Lieferjahr fest. Würde man nur auf dem Spotmarkt (Handel von kurzfristig lieferbarerem Strom für den folgenden oder den laufenden Tag) setzen, geht man ein preisliches und letztendlich auch wirtschaftlich höheres Risiko ein. Bei turbulenten Marktpreisen - wie in diesem Jahr-  ist man voll den extremen Preisanstiegen ausgesetzt. Hohe Endkundenpreise und gegebenenfalls wirtschaftliche Schwierigkeiten sind dann die Konsequenz.

Wie lässt sich die Situation im Jahr 2021 auf dem Energiemarkt einordnen im Vergleich zu den Vorjahren?
Thomas Gaide: Das, was auf dem Erdgas- und Strommarkt passiert, ist außergewöhnlich und historisch Wir haben die Entwicklung besonders intensiv beobachtet und unsere noch offenen Einkaufsgeschäfte gemäß unserer Risikorichtlinien geschlossen. Für meinen Verantwortungsbereich war es insgesamt eine herausfordernde und teils auch nervenaufreibende Zeit. Es gabt Nächte, an den ich nicht so gut geschlafen habe.

Wie lässt sich überhaupt die Absatzmenge für das Folgejahr berechnen?
Thomas Gaide: Anhand von historischen Absatzdaten und unter Berücksichtigung von aktuellen Kundenzugängen und Kundenabgängen erstellen wir eine Prognose für das folgende Jahr. Bei dieser Prognose legen wir für jede Stunde des Jahres fest, wie viel Energie wir benötigen. Es gibt 8.760 Stunden im Jahr und dann heißt es für jede Stunde „Top, die Wette gilt!“. Im Nachhinein - also im dann laufenden Jahr - stellt sich heraus, wie gut die Prognose getroffen wurde. Die stündlichen Abweichungen werden entweder am Spotmarkt gekauft oder verkauft. In der Regel liegt die Abweichung der Prognosemenge von der IST-Menge bei +/- 3 Prozent. Unser Bestreben ist es natürlich, die Prognose so genau wie möglich zu treffen. Das ist uns in der Vergangenheit auch gut gelungen. Problematisch wird es bei extrem hohen Spotmarktpreisen. Die finanziellen Effekte von Zu- oder Abverkäufen können schnell in den Millionenbereich gehen. Wir haben deshalb auch im Lieferjahr ein besonderes Augenmerk auf die monatlichen Mengen und Preisentwicklungen.

Beim Blick auf weiter steigende Preise im Strom und Gas. Wie bleibt man bei einer derartigen Preisrallye gelassen?
Thomas Gaide: Durch ein gutes Teamwork und abteilungsübergreifende Zusammenarbeit haben und werden wir wohl auch zukünftige extreme Marktpreissituationen meistern. Es ist wichtig Ruhe zu bewahren, den Überblick zu behalten und im Sinne der Kunden und des Unternehmens möglichst die richtigen Entscheidungen zu treffen.